Ein später Sonntagnachmittag in Straßburg, der Hauptstadt des Elsass nahe der Grenze zu Deutschland. Aufgrund der wechselvollen Geschichte der Region bietet die Stadt heute eine faszinierende Mischung aus französischer und deutscher Kultur. Sogar die Straßenschilder sind zweisprachig beschriftet: So heißt etwa die Rue des Écrivains auf Elsässerdeutsch Schriwerstubgass. Der Tag war anstrengend, und ich setze mich in ein Restaurant. Die geteilte Nationalität der Stadt erstreckt sich auch auf die elsässische Küche. Natürlich steht Foie gras auf der Speisekarte. Doch es gibt auch Jarret de porc (Schweinshaxe), serviert mit choucroute (Sauerkraut) und scharfem Meerrettichsenf, der einem die Tränen in die Augen treibt. Dazu werden elsässische Weine mit deutschen Namen wie Riesling und Gewürztraminer gereicht, aber auch Bier aus der Straßburger Brauerei Fischer. In dieser Stadt trinken die Franzosen Bier. Wie deutsch ist das denn?
Am nächsten Morgen nimmt mich Stadtführerin Régine Baumgartner mit auf eine große Besichtigungstour. Wir starten vor dem majestätischen Straßburger Münster. Sein genialer Architekt war der deutsche Baumeister Erwin von Steinbach. Nach seinen Entwürfen wurde der romanische Vorgängerbau von französischen Handwerkern aus Chartres und Reims im gotischen Stil umgebaut. Über dem Hauptportal setzten sie eine herrliche Fensterrose im typisch nordfranzösischen Stil ein. Vergleichbare Fenster befinden sich an Kathedralen in Chartres, Senlis und Paris. Die Renaissancehäuser mit ihren Dachgauben am Münsterplatz sind typische Beispiele für die süddeutsche Architektur. Der angrenzende Museumskomplex in einer ehemaligen Bischofsresidenz aus dem 18. Jahrhundert ist dagegen ganz im Louis-quinze-Stil gehalten. Straßburg, die strategisch günstig an den Flüssen Ill und Rhein gelegene Stadt war römische Siedlung, Bischofssitz, freie Reichsstadt. Nach 1681 wechselte sie die Zugehörigkeit zu Frankreich und Deutschland mehrfach. Wir spazieren durch enge Gassen, über Plätze und am Wasser entlang. Ein Brautpaar posiert vor der Kulisse des Kanals und der Fachwerkhäuser für seine Hochzeitsfotos.
- Glockenturm des Straßburger Münsters
- Eingang des Straßburger Münsters
- Kirchenschiff Kathedrale Strasburg
- Astronomische Uhr Straßburg
- Bronzemodell von Straßburg
- Altstadt von Straßburg
- Altstadt von Straßburg
- Altstadt von Straßburg
- Gutenberg-Statue
- Altstadt von Straßburg
- Vor dem Museum für moderne Kunst
- Museum für moderne Kunst Strasburg
- Exponat Im Vodoo Museum Straßburg
- Straßburgs Neustadt
- Straßburgs Neustadt
- Straßburgs Neustadt
- Straßburgs Neustadt
- Europäische Hauptstadt Straßburg
- Europäisches Parlament
- Europäisches Parlament
Von der Altstadt in die Neustadt
Wir überqueren eine Brücke und wechseln aus der Altstadt in die im 19. Jahrhundert erbaute Neustadt rund um die Place de l’Université. „Noch vor 30 Jahren war dieser Teil der Stadt nicht auf touristischen Karten verzeichnet, nicht einmal der Name wurde dort erwähnt“, erzählt Baumgartner. Wir stehen vor einem prächtigen Jugendstilgebäude, das Anfang des 20. Jahrhunderts von deutschen Architekten erbaut wurde. Früher residierte hier ein Versicherungsunternehmen namens Germania, doch als das Elsass nach dem Ersten Weltkrieg an Frankreich zurückfiel, wurde der Name schnell gestrichen. Heute lautet er Gallia. Die Neustadt wurde im Sinne der Germanisierung erbaut, nachdem Frankreich im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 unterlegen war. Mit der Fertigstellung der Neustadt um 1910 hatte sich die Größe des Straßburger Stadtgebiets verdreifacht. Gleichzeitig waren Zehntausende Familien aus ganz Deutschland in die Stadt gezogen, angelockt von der Aussicht auf bezahlbare Wohnungen, moderne Einrichtungen und hervorragende Bildung in allen Bereichen bis hin zu einer neuen Universität. Das Ende des Ersten Weltkriegs zog nicht nur zahlreiche Namensänderungen nach sich, sondern auch die Vertreibung von bis zu 100.000 deutschstämmigen Bewohnern aus dem Elsass.
Unterwegs verweist Baumgartner auf die Namen deutscher Architekten und Baumeister, die wie Malersignaturen in die Wände graviert sind. Das Viertel zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe. Es ist eines der beeindruckendsten und vollständigsten Zeugnisse deutscher Architektur vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit neoromanischen Kirchen, neoklassizistischen Regierungsgebäuden, der Universität sowie Wohnhäusern im Jugendstil und in neobyzantinischer Bauweise. Hier ist eine der faszinierendsten Städte Europas – und eine einzigartige Küche – entstanden.
Baeckeoeffe, das elsässische Nationalgericht
Bei einem früheren Kurzbesuch in Straßburg hatte ich Baeckeoeffe kennengelernt. Seine deutschen Bestandteile sind üblicherweise Fleisch und Kartoffeln, doch die Zugabe von Weißwein verleiht dem Eintopf eine unverkennbar französische Note. In beinahe jedem Restaurant in Straßburg und Umgebung steht es auf der Speisekarte. Aber wie beim Riesling gibt es auch hier Qualitätsunterschiede.
Chefkoch Thierry Schwaller, Besitzer des Restaurants Fink’Stuebel, lacht, als ich ihn nach dem Unterschied zwischen einem durchschnittlichen und einem Spitzen-Baeckeoeffe frage. Die meisten Touristenlokale, erklärt er mir, erhielten Baeckeoeffe vorgekocht: „Sie müssen die Portionen nur noch in der Mikrowelle aufwärmen.“ Dann erklärt er mir, wie man es richtig machen sollte: Er mariniert das Fleisch zwei Tage lang in Riesling und Kräutern, dann schichtet er abwechselnd Kartoffeln, Gemüse und Fleisch übereinander. „Ich gebe immer Karotten dazu, weil sie die Säure des Weins ausgleichen“, erklärt er. Die gefüllte Terrine übergießt er mit der übrigen Marinade. „Ein Stück kräftig geräucherte Schweineschwarte kommt oben drauf, nur für den Geschmack.“ Er setzt den Deckel auf, verschließt ihn mit Teig und schiebt das Ganze für drei Stunden in den Backofen. Das Ergebnis ist himmlisch. „Es ist das elsässische Gericht“, schwärmt Schwaller.
Das Wort Baeckeoeffe bedeutet „Bäckerofen“. Früher haben die Menschen die Speise zu Hause vorbereitet und freitags zum Bäcker gebracht, wo die Terrine mit Teig versiegelt und in den langsam abkühlenden Brotofen geschoben wurde, damit der Eintopf am nächsten Tag fertig war. Inspiriert wurde das Gericht von der jüdischen Sabbatspeise Tscholent, die auf ähnliche Weise zubereitet wird, damit am Sabbat nicht gekocht werden musste. Die Tradition wurde nach der Reformation von strenggläubigen Protestanten übernommen, die dieselben Sabbatregeln aus dem Alten Testament befolgten wie die Juden. Eine weitere interessante Facette der vielseitigen Kulturgeschichte der Stadt.
Im Historischen Museum von Straßburg, das ich am nächsten Morgen besuche, erläutern Exponate, Tondokumente und Videos die Stadtgeschichte Straßburgs von der Römerzeit bis zur Annexion des Elsass durch die Nazis 1940 und seine Wiederangliederung an Frankreich. Die multimediale Zeitreise endet mit einer optimistischen Präsentation eines geeinten Europas. Symbolisiert wird es durch die neue Rheinbrücke nach Deutschland und die Präsenz führender europäischer Institutionen in der Stadt: das Europaparlament, der Europarat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
An meinem letzten Nachmittag in der Stadt schlendere ich am Ufer der Ill entlang bis zum futuristisch anmutenden Glaspalast des Europaparlaments. Mit einer befristeten Akkreditierung kann ich mir die Fernsehstudios und Arbeitsbereiche für internationale Korrespondenten ansehen sowie auf der Pressetribüne im Haupttagungssaal Platz nehmen. Unten im Plenarsaal erkenne ich einige Mitglieder des Parlaments dieser Union, die Europa beispiellose 70 aufeinanderfolgende Friedensjahre beschert hat. Zur Linken des Vorsitzenden befinden sich die Sozialisten und die Grünen, zur Rechten die Liberalen, die Christdemokraten und die Konservativen. Ganz rechts außen sitzen die Nationalisten und Europaskeptiker, die die Zeit zurückdrehen und sich hinter Grenzen und Zäunen verschanzen wollen Die Geschichte Straßburgs sollte eine Mahnung sein – ihnen und uns allen.
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