Dann erklärten diese, dass ihre Mutter eine Frau namens Lillian Feinsilver war, die wenige Tage nach ihrer Geburt im Bellevue Krankenhaus in New York City gestorben war. Joanne weinte nächtelang und dachte über ihre leibliche Mutter nach. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass diese noch am Leben war. Der Gedanke beschäftigte sie jahrzehntelang. Shelley Loewenstern, die sah, wie ihre Schwiegermutter unter der anhaltenden Ungewissheit litt, schlug ihr 2017 vor, einen DNA-Test machen zu lassen. Joanne war da schon 79 Jahre alt. Selbst wenn ihre Mutter schon vor Jahren gestorben wäre, sagte Shelley, könnte es Joanne ein wenig Seelenfrieden geben, wenn sie mehr über ihre leibliche Familie wüsste. Joanne machte den Test, und etwa ein Jahr später erhielt Shelley eine Nachricht von Sam Ciminieri, dessen genetischer Fingerabdruck zu dem von Joanne passte.
Shelley schrieb sofort zurück und fragte, ob er Lillian Feinsilver kenne. Ciminieri antwortete, das sei seine Mutter. Und tatsächlich war sie noch am Leben – Joannes Gefühl hatte sie also nicht getrogen. Doch das war noch nicht alles. Lillian – inzwischen 100 Jahre alt – lebte in einem Pflegeheim in Port St. Lucie im US-Bundesstaat Florida, und Joanne wohnte keine 130 Kilometer entfernt in Boca Raton. „So erfuhren wir, dass wir eine zweite Familie hatten, die wir sonst nie kennengelernt hätten“, sagte Joannes Sohn Elliot Loewenstern der Zeitung Washington Post. Rasch planten die Familien ein Treffen in dem Heim, in dem Lillian Feinsilver lebte.
Zum erst Mal seine Mutter sehen
Vier Wochen später sass Joanne ihrer Mutter gegenüber, nach der sie ihr ganzes Leben lang gesucht hatte. Lillian, die an Demenz litt und im Rollstuhl sass, blieb stumm. „Ich weiss nicht, ob sie mich erkennt“, sagte Joanne angespannt. Sie erklärte Lillian, dass sie 1938 adoptiert worden war und man ihr gesagt hatte, ihre leibliche Mutter sei gestorben. Keine Reaktion. Joanne begann zu weinen. In diesem Moment blitzten die Augen ihrer Mutter auf, als hätte sie etwas verstanden. Aufgeregt erzählte Lillian ihr alles über ihre Kinder und Enkel. Lillian lächelte. Und dann sagte sie die Worte, auf die Joanne seit mehr als 60 Jahren gewartet hatte: „Das ist meine Tochter.“ Wie die Loewensterns erfuhren, hatte Lillian ihrer Familie im Laufe der Jahre immer wieder gesagt, dass sie „ihre Tochter verloren habe“. Alle waren davon ausgegangen, dass das Baby gestorben war. Da Lillian bei der Geburt des Kindes nicht verheiratet war, so vermutet Joannes Familie, hatte man das Baby nach der Geburt zur Adoption freigegeben.
Doch nun, wo sich die beiden ganz unerwartet wiedergefunden hatten, spielte das alles keine Rolle mehr. An diesem ersten Nachmittag malten sie zusammen mit Buntstiften – was zufällig ein Hobby von beiden ist. Als Joanne drei Tage später zu Besuch kam, erinnerte sich Lillian wieder an sie. Jetzt sehen sie sich alle paar Wochen und geniessen die Zeit zusammen. „Ich bin überglücklich“, sagt Joanne. „Darauf habe ich mein ganzes Leben lang gewartet.“
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