Mit geschlossenen Augen und ruhig atmend sitzen drei Frauen und acht Männer um einen Holztisch herum. In der Mitte flackert eine Kerze. Unter dem Tisch streicht eine Katze schnurrend die Beine entlang. Als niemand reagiert, miaut sie empört. Ein Kichern geht durch die Runde. Minou, im Moment die Verantwortliche für die Wäsche, nimmt das liebesbedürftige Haustier auf den Schoss.
Die wöchentliche Teamsitzung im „Stübli“ des Hotels Zum Goldenen Hirschen hat soeben mit einer Meditation begonnen. Nach ein paar Minuten öffnen die Frauen und Männer die Augen wieder. Bernhard, der zur Führungscrew gehört, fragt in die Runde: „Was bewegt uns momentan?“ Robert meldet sich als Erster. Es geht um die Baumstrunk-Skulpturen vor dem Hoteleingang. Er findet nicht, dass sie behandelt werden müssen: „Das Lärchenholz produziert genug Harz.“ Susann, eine freiwillige Gasthelferin aus Irland, die einen Monat mitarbeitet, würde sie trotzdem gern mit Lack schützen. Minou wendet ein: „Nichts ist für die Ewigkeit.“ Damit ist das Thema abgehakt. Christian, ebenfalls Gasthelfer, möchte als Nächstes über einen Konflikt in der Küche reden, Susann das Gespräch von letzter Woche über die Werte des Leitungsteams fortsetzen.
Die Zahnradbahn führt Ausflügler auf dem Weg zum Gipfel
am geschichtsrächtigen Gasthaus vorbei. Foto: © Monique Wittwer
Davon, dass wir uns in einem Hotel am meistbesuchten Berg der Schweiz, der Rigi, befinden, ist hier kaum etwas zu spüren. Vor der Tür kündigt sich ein strahlender Herbsttag an. Keine 50 Meter entfernt ruckelt die Zahnradbahn mit Hunderten Ausflüglern stündlich von Vitznau direkt am Vierwaldstättersee in Richtung Kulm. Fast 800.000 Personen beförderten die blauen Waggons letztes Jahr auf die Bergspitze: Reisegruppen, Familien, Wanderer, Deltasegler, Skisportler, Rodler und viele mehr.
Eine Oase der Ruhe
Das Hotel Zum Goldenen Hirschen liegt mittendrin auf 1316 Meter und ist eine Oase der Ruhe. Dass dies so ist, liegt an den Inhabern. Der Betrieb wird von einer ungewöhnlichen Gruppe Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte geführt, die das heruntergekommene Haus vor neun Jahren gekauft haben. Ihr Konzept hat mit den Ansätzen der konventionellen Hotellerie in Tourismusregionen so gar nichts gemein. In dem geschichtsträchtigen Haus übernachtete schon Goethe, und die kleine Glocke der Klosterkapelle erinnert an die Tageszeit. Hier sollten sich Menschen nicht nur dem Tagesumsatz unterordnen müssen, niemand mit dem Putzwagen durch die Zimmer hasten und kein Essen unter Stressgebrüll zubereitet werden. Hier, auf der Königin der Schweizer Berge, sollten alle innere Einkehr finden, sowohl die Gäste als auch die Gastgeber. Ohne Pommes frites und Bratwurst, sondern mit vorwiegend vegetarischem Essen in Bio-Qualität. Was sich in der Fantasie so rund anfühlte, begann zunächst mit einem Chaos. Die Neo-Gastronomen hatten nämlich gar keine Erfahrung im Gastgewerbe. Die Frauen und Männer kamen aus ganz anderen Berufen: Bernhard ist Bewegungstherapeut und Masseur, Thomas Heilpraktiker, seine Partnerin Margrit Physio- und Cranio-SacralTherapeutin, und Robert arbeitete als Sozialpädagoge.
Im Sommer 2008 lernten sie sich an einem Seminarwochenende zum Thema Spiritualität im Goldenen Hirschen kennen. Jemand erzählte, dass das Hotel zum Verkauf stünde. Thomas und Margrit begannen sogleich zu fantasieren über einen Ort, in dem sich Spiritualität im Alltag entwickeln kann. Zudem war das Haus für fast nichts zu haben. Rund ein Dutzend Leute aus ihrem Seminar sagten, dass sie mitmachen wollten. Doch nicht allen reichte der Atem. Die Hälfte sprang wenige Wochen nach der Eröffnung wieder ab. „Es war kein einfacher Weg“, sagt Bernhard. Die Sitzung ist vorüber, nur noch er sitzt am Tisch. Robert und Christian sind in der Küche verschwunden, Sandra mit dem Putzeimer in die Etagenduschen, Minou in die Waschküche, wo sie heute Morgen einen grossen Busch frisch gepflückte Minze auf einen Tisch gelegt hat, damit der Duft in die Wäsche einzieht. „Das Betriebskonzept führte zum ersten Krach. Dann hatten wir einen schwierigen Koch. Jeden Abend um 22 Uhr trafen wir uns und diskutierten endlos über Arbeitsaufteilung, Zimmereinrichtungen, das Geschirr und vieles mehr.“
Ein Hotelgast bringt das Team wieder auf die Spur
Als die Gruppe endgültig zu zerbrechen drohte, war zufällig der goldrichtige Hotelgast da: Ein Coach half den Frauen und Männern, das Projekt wieder in ruhige Bahnen zu lenken. Manche von ihnen waren über Jahre Einzelkämpfer gewesen. Mit der Übernahme eines Hotels fanden sie sich plötzlich in einem Team und einer unbekannten Branche wieder, in einem Haus, an dem ständig etwas repariert werden musste. Aus dieser Zeit sind sechs geblieben: Bernhard, Robert, Thomas und Margrit, Wally und Dorothea, die gerade in den Ferien weilt. Sie bezeichnen sich selbst als Piloten. Robert und Wally wohnen hier. Die anderen pendeln zwischen ihren Wohnungen in Zürich, Teufen und Hannover und der Rigi hin und her. Dann sind da noch Minou, Lehrerin für persischen Tanz, als junge Frau aus dem Iran geflüchtet, Alois, der Allrounder, und Lotti, die Köchin. Sie bilden zusammen mit den Piloten das Kernteam.
Nicht nur die Zusammenarbeit, auch das Lohnmodell der Frauen und Männer im Goldenen Hirschen dürfte für ein Schweizer Hotel einzigartig sein: Nur drei von ihnen beziehen ein sogenanntes Bedürfnisgehalt, also gerade so viel, wie sie fürs Leben brauchen. Alle anderen leben von ihren Ersparnissen oder Einkommen, die sie andernorts erzielen. Würden sich alle einen Lohn auszahlen, würde ihr Modell nicht funktionieren. Es wäre schlicht zu wenig Geld da. Es funktioniert zudem nur, weil stets freiwillige Gasthelfer für Kost, Logis und Gemeinschaftserfahrung im Goldenen Hirschen mitarbeiten.
Wally Begemann hat ihren Traum einer Gemeinschaft hier
wahr gemacht: Zuvor war sie Sozialarbeiterin.
Foto: © Monique Wittwer
Ein Ort, wo man seine Gefühle sortieren kann
Heute können wir auf diese Weise die Betriebskosten decken“, sagt Robert. In den letzten Jahren nahm die Zahl der Übernachtungen, Anlässe und Seminare im Hotel Zum Goldenen Hirschen ständig zu: Yogakurse, Singwochen, Musik-Workshops, Seminare zur Chinesischen Medizin und zu integralem Lernen. Aktuell findet ein mehrtägiger Malkurs statt. Der Dozent wird die vier Teilnehmerinnen am Nachmittag mit ihren Zeichenblöcken in die Natur führen. Eine Teilnehmerin war bereits mehrmals da. Weil sie hier total entspannen könne, sagt sie: „Ohne Wellness-Schnickschnack, sondern wegen der Einfachheit und der Ausstrahlung dieses wunderbaren Ortes.“ Ein Blick ins Gästebuch zeigt, dass sie nicht der einzige Gast ist, der nach einem ersten ein zweites und drittes Mal kommt. Viele stillen im Hotel Zum Goldenen Hirschen ihre Sehnsucht nach ein paar Tagen abseits des Alltagstrotts. Hier sortieren sie ihre Gefühle, überdenken ihre Pläne, finden etwas zu sich selbst.
Gegen Mittag treffen die ersten Tagesausflügler ein, sie setzen sich fürs Mittagessen auf die sonnenbeschienene Terrasse, auf der das heruntergefallene Laub bei jedem Windhauch raschelt. Aufs Buffet haben Robert und Christian Schüsseln voller Salat, Safranreis und Gemüse gestellt. Minou trägt eine Schale mit scharfem Chutney herein und geht damit von Tisch zu Tisch, damit sich jeder davon nehmen kann. Stolz sagt sie: „Meine Überraschung heute für euch alle.“ Sie hat es zubereitet, während sich in der Waschmaschine die weisse Bettwäsche drehte. Beim Essen erzählt sie den Gästen: „Ich wollte nur drei Monate bleiben, jetzt sind es drei Jahre. Nach dem Iran und Deutschland ist das hier meine Heimat geworden. Wir sind nicht einfach eine Arbeitsgemeinschaft, das hier ist viel, viel mehr.“
Minou ist im Iran geboren und hat in der Schweiz
eine neue Heimat gefunden. Foto: © Monique Wittwer
Der Traum des Sommers 2008 hat sich für die Piloten erfüllt
Sie alle finden, dass es nur klappte, weil sie sich regelmässig offen austauschen. Jeden Montagabend gibt es Bewegung unter der Leitung von Bernhard. Jeden Mittwochabend singen sie mit Thomas zusammen. Sie treffen sich bei der Teamsitzung, beim Mittagstisch, abends bei einem Glas Wein. „Stets wieder das Gleichgewicht zu finden, war für uns alle eine Herausforderung und wird es auch bleiben“, sagt Thomas, der ins Stübli zurückgekehrt ist, um die Buchungsanfrage einer 35-köpfigen Buddhistengruppe für den nächsten Sommer zu besprechen. Er freut sich auf die spannenden Begegnungen, die der Ort ermöglicht, auch wenn sie nicht von Dauer sind. „Wir kommen und gehen, und auch unsere Gäste kommen und gehen.“
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