Reisende aus dem Ausland staunten nicht schlecht, wenn sie zu Beginn des Eisenbahnzeitalters in Japan einen Bahnhof betraten. Überall auf dem Bahnsteig standen Schuhe, fein säuberlich Paar für Paar aneinandergereiht. Was dahinter steckte, konnten sie gleich beobachten: Bevor die Japaner in den wartenden Zug stiegen, zogen sie ihre Schuhe aus und betraten die Waggons barfuß beziehungsweise auf Strümpfen.
Ein Land macht sich auf die Socken
Diese Eigenart war das kuriose Ergebnis einer Begegnung von Tradition und Fortschritt. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Japan eine etwa 200 Jahre andauernde selbstgewählte Isolation aufgegeben und sich gegenüber dem Westen geöffnet. Entschlossen, die aus dieser Abschottung resultierende Rückständigkeit wettzumachen, wurden Wirtschaft und Technik nach amerikanischem und europäischem Vorbild neu organisiert. Dazu zählte auch der Bau einer Eisenbahn. Der erste Zug fuhr am 14. Oktober 1872 von Tokio nach Yokohama. Die Japaner waren begeistert: Er legte die 40 Kilometer lange Strecke, für die man zu Fuß gut sieben oder acht Stunden brauchte, in nur knapp 60 Minuten zurück.
Aber die Japaner wussten, was sich gehört. Wenn sie ein Gebäude betraten, zogen sie sich die Schuhe aus. Und so hielten sie es auch mit dem Zug. Sie sahen in ihm ein Gebäude – dass sich allerdings kurz darauf qualmend und laut schnaufend in Bewegung setzte. Zum Glück gewöhnten sich die Japaner schnell an die neuen Verhältnisse. Und so verschwanden denn auch rasch die Schuhe aus den japanischen Bahnhöfen.
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